Samstag, 21. März 2020



Das Ambergersche Familienrad

"Ganz anders sieht es in unseren Tagen auf einer Strasse aus, als zu Großvaters Zeiten, wo höchstens ein Leiterwagen, ein Lastwagen, eine Postkalesche, oder ein Bauer, hie und da ein Reiter, oder die Fußgänger dahinzogen", schrieb ein aufmerksamer Beobachter im Jahr 1900 über die rasante Entwicklung des Straßenverkehrs in Wien. "Heute fahren viele elegante Wagen, öfters bereits Automobile, diese originellen Fahrzeuge der nächsten Zukunft, und vor allem hunderte von Zweirädern, denn das Bicyle hat sich thatsächlich die Welt erobert."

Erobert hatte sich das Zweirad allerdings auch den weiblichen Anteil der Bevölkerung - nicht unbedingt zur Freude einer von Zwängen und Konventionen durchsetzten Gesellschaft, deren doppelbödige Moralvorstellungen allerlei seltsame Blüten trieben. Trotzdem ließ sich die Weiblichkeit nicht aufhalten, erfand auch gleich eigene Radröcke, und wurde kurzerhand mobil. Um nun die Familie nicht künstlich zu entzweien, mussten neue, innovative Lösungsansätze her, von denen einer es tatsächlich auf die Strassen Wiens geschafft hat:
"Mama und Papa radeln mit ihren Sprösslingen ins Freie", war unter der Werbeschrift des "Familienrades" zu lesen. Johann Amberger, der Erfinder des Vehikels, betonte, dass ein solches Rad niemals umfallen könne, und ganz leicht auch in ein Geschäftsrad umzuwandeln sei, indem "anstelle eines Kinderkorbes ein Geschäftskorb, oder eine Kiste einzuhängen sei."
Auch wenn dem Ambergerschen  Familienrad letztlich kein dauerhafter Erfolg beschieden war - man trifft sie noch, die entfernten Verwandten dieser seltenen Spezies. Im Prater beispielsweise, auf der Hauptallee, finden sich im Sommer unzählige Rikschas. Und nicht selten sind es Mamas und Papas, die so mit ihren Sprösslingen ins Freie radeln.

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